Überleben mit ME/CFS: Psychotherapie

Ich muss gestehen: Ich bin ein großer Fan von Psychotherapie, besonders von Verhaltenstherapie und das an und für sich auch mit ME/CFS. Und hier schreibe ich bewusst “mit” und nicht “bei ME/CFS”, denn ursächlich kann Psychotherapie bei dieser Krankheit nicht viel bewirken. Im Gegenteil, die wöchentlichen emotional aufrührenden Gespräche können zu deutlichen Verschlechterungen auch bei moderat erkrankten ME/CFS-Betroffenen führen, weshalb Risiko und Nutzen einer Therapie individuell abgewogen werden müssen. 

Herausforderungen und Belastungen mit ME/CFS (Auswahl)

ME/CFS ist eine schwere körperliche Erkrankung, die auf vielen Ebenen einen extremen Leidensdruck hervorruft, bei Patienten und Angehörigen. Bisher ist sie unheilbar und sie ist lebensverändernd. Tatsächlich ist die Lebensqualität von Menschen mit ME/CFS durchschnittlich deutlich niedriger als die von Menschen nach einem Schlaganfall, mit Multipler Sklerose oder Krebs.

Es ist schwer, mit ME/CFS zu leben oder auch nur schöne Momente zu erleben. Denn viele von uns sind bettgebunden, extrem licht- und geräuschempfindlich und können kaum aufstehen, geschweige denn, die Wohnung verlassen. Wir fühlen uns in unserem Körper gefangen, in unserem Bett, in unserer Wohnung und in dem Krankheitsgeschehen, das unvorhersehbar und  manchmal stündlich wechselt.

Wir können diese Realität nicht ändern. Aber wir können etwas daran ändern, wie wir damit umgehen, wohin wir unsere Gedanken lenken. Wir können unser Denken beeinflussen und uns darauf fokussieren, im Hier und Jetzt zu leben. Wir können im Geiste an andere, schönere Orte reisen, wenn wir eine Auszeit brauchen. 

Meine persönliche Erfahrung: Psychotherapie erst mit Long Covid, dann ME/CFS

Daran habe ich mit meiner Psychotherapeutin gearbeitet, als ich noch zu ihr kommen konnte. Damals war ich nur moderat erkrankt – und habe unter den Einschränkungen von ME/CFS extrem gelitten. Nach meinem Crash Ende 2022, der mich in die Bettlägerigkeit brachte, habe ich mich an unser Motto erinnert: Im Hier und Jetzt zu leben, einen Tag nach dem anderen. Denn es ist zu traurig und zu überwältigend, diese große graue Masse der nächsten Wochen und Monate zu sehen, dieses überwältigende Nichts, zu dem mein Leben geworden ist.

Meine persönliche Erfahrung lässt mich daran glauben, dass insbesondere die Verhaltenstherapie mit ihrem Fokus auf Ressourcen im Hier und Jetzt, die Lebensqualität von ME/CFS-Betroffenen verbessern kann.  
Die Herausforderungen, denen man als Betroffener gegenübersteht, sind riesig: jahrelange Odyssee zur Diagnosefindung, Zweifel und Herabwürdigungen von Ärzt:innen, Freund:innen und Familie, die die Existenz einer körperlichen Erkrankung wegdiskutieren. Dazu kommen finanzielle Einschnitte und auch der Verlust wichtiger Lebensbausteine wie Gesundheit, Studium/Arbeitsplatz, Hobbys, Gemeinschaft und Sport kann extrem belastend sein. 

Mein Innerer Kampf

An all diesen Stellen kann Psychotherapie helfen, Halt geben und den Rücken stärken. Ironischerweise wurde bei mir der Verdacht auf ME/CFS von einer Psychotherapeutin geäußert. Sie hat mich bei meinem Ärztemarathon seelisch und moralisch unterstützt. Sie hat mit mir einen Weg gefunden, diese Krankheit zu akzeptieren und dasein zu lassen. Ich habe ewig dagegen angekämpft, denn ich wollte es nicht. Ich wollte alles, nur kein ME/CFS haben. Ich wollte kein “Loser” sein, sondern ein Krieger, der gegen seine Krankheit kämpft und alles tut, um gesund zu werden. Eine vertrauenswürdige und respektable Person,  die die Erwartungen erfüllt, die mein Umfeld an mich hatte.

Aber das hat nicht geklappt. Je mehr ich kämpfte, in dem Sinne, wie mein Umfeld es definierte, desto kränker wurde ich. Sie sehen nicht, welche Anstrengung es ist, zu atmen. Sie erkennen nicht an, dass ich nach wie vor jeden Tag kämpfe. Kämpfe mit ME/CFS sind lautlos und sie finden im Verborgenen statt.
Und da hat Psychotherapie mir sehr geholfen. Sie hat mich bestärkt, das Richtige zu tun, indem sie mich und meine Bedürfnisse in den Fokus rückte. Nach der Krankheitsakzeptanz kam die Krankheitsbewältigung, dann das Krankheitsmanagement. 

Hilfe zur Selbsthilfe

Das Leben steht Kopf. Immer wieder neue Symptome und neue Probleme, dazwischen zerstörte Freundschaften und eingeschnappte Familienmitglieder. Eine professionelle, verlässliche Begleitung während der unzähligen Versuche der Anpassung an eine neue, veränderte, herausfordernde und extrem kräftezehrende Lebensrealität ist wichtig. Sie kann einem durch steinige und steile Passagen des eigenen Lebenswegs helfen. Helfen, nicht tragen – getreu dem Motto: Nur du allein kannst es schaffen, aber du schaffst es nicht allein. Diese Hilfe zur Selbsthilfe kann auch Jahre später noch Früchte tragen. 
Auch die soziale Unterstützung durch einen sicheren Rahmen, vertrauliche Gespräche und eine externe Bezugsperson ist nicht zu unterschätzen.

Gründe gegen Psychotherapie mit ME/CFS

Doch auch wenn Psychotherapie im Umgang mit ME/CFS helfen kann, es gibt einen großen Haken an der Sache: Nur unter den richtigen Voraussetzungen kann Psychotherapie bei Menschen mit ME/CFS eine Verbesserung u.a. des emotionalen Wohlbefindens bewirken, aber nicht die Krankheit verbessern oder gar heilen. Es kann helfen, sein Leben neu zu gestalten und belastende Themen zu bearbeiten, aber dafür müssen die Bedingungen passen.

Es braucht u.a. eine tragfähige Beziehung, Vertrauen, Kenntnisse der Therapeutin oder des Therapeuten über ME/CFS (und insbesondere PEM!) sowie ggf. andere postvirale Erkrankungen, deren Berücksichtigung und natürlich eine angemessene gesundheitliche Verfassung der Klientin oder des Klienten. 
Ein behutsames, patientenorientiertes und partnerschaftliches Vorgehen ist wichtig, um Vertrauen aufzubauen, PEM zu vermeiden und persönliche, aber realistische Ziele festzulegen.

Zusammenfassung

Psychotherapie kann sowohl Menschen mit ME/CFS als auch ihren Angehörigen nachhaltig helfen, mit und manchmal trotz der Krankheit zu leben. Dafür sind eine selbstbestimmte Entscheidung, gegenseitiges Vertrauen und Kenntnisse zur ME/CFS-Symptomatik inkl. PEM entscheidend, doch selbst dann sollten Risiken und Nutzen streng gegeneinander abgewogen sein. 


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