Es ist nicht selten, dass Menschen mit einer längerfristigen oder schweren Erkrankung Selbstzweifel und ein Gefühl von Wertlosigkeit entwickeln. Dabei spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, und ich möchte heute zwei davon herausgreifen.
Gründe für Selbstzweifel und Wertlosigkeit
Aus dem Inneren kommen diese Gedanken und Gefühle als angemessene Reaktion auf den Verlust der eigenen Identität, Gesundheit, Hobbies, Ansehen und Anerkennung sowie potentiell den zusätzlichen Verlust des Arbeitsplatzes, der Tagesstruktur und des sozialen Netzes.
Auf diesen regelrechten Haufen aus Emotionen, Fragen und Zweifeln werden von außen oft noch weitere negative Gefühle draufgepackt, durch Reaktionen wie Unverständnis, Ungeduld, Schuldzuweisungen, Ratschläge, Kritik und Ignoranz.
Ich habe in meinem Leben viel Zeit damit verbracht, mich selbst runterzumachen, damit es nicht so wehtut, wenn andere es tun. Das Ergebnis: Das hat nicht funktioniert. ( Überraschung!) Ich habe mich trotzdem wertlos und ohnmächtig gefühlt. Mir weiter die Schuld daran gegeben, unheilbar krank zu sein.
Das passiert mir heute immer noch ab und an, aber ich habe ein Argument gefunden, eine Art Affirmation, die mir Selbstwirksamkeit und einen Anteil am Genesungsprozess bzw. Krankheitsverlauf zurückgibt. Die anerkennt, dass ich jeden Tag so viel wie möglich dafür tue, gesünder oder wenigstens nicht kränker zu werden. Die beinhaltet, dass ich gesund werden will. Sie lautet:
Meine Aufgabe besteht darin, meinen Körper in einem Zustand zu halten, in dem alle Interventionen ihre Wirkung entfalten können.
Diese Aufgabe klingt erstmal einfach, aber sie ist ganz sicher nicht leicht.
Mosaiksteine zur Stabilisation
Viele verschiedene Schritte sind notwendig, um diesen ominösen ausgeglichenen Zustand zu erreichen und zu erhalten, dieses kleine Fenster, in dem Medikamente und andere Maßnahmen optimal wirken. Der Weg dorthin beinhaltet unter anderem die folgenden Schritte.
- Energiemanagement und Pacing
Energielevel erkennen, Aufgaben/Termine planen und priorisieren, Pausen planen und einhalten - Selbstbeobachtung
Energielevel, Körpergefühl, indikative Gedanken - Gesunde Lebensweise
Ernährung, Bewegung, Aktivität
Balance zwischen Unterforderung und Überforderung - Tracking von Körperzuständen und Aktivitäten
Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Schrittzahl, Wasserbilanz, Medikamentenbedarf - Dokumentation von Krankheitsverlauf, Therapieversuchen und Krankenkassenkorrespondenz
Crashs, Symptome, Therapieversuche, Trigger, …
Bürokratie - Therapietreue und Compliance
Medikamente und andere Therapiebausteine regelmäßig und gewissenhaft anwenden
Infektionsschutz - Recherchen
Therapieoptionen, Symptome, Komorbiditäten, u.A. - Zusammenarbeit mit behandelnden Personen
ehrliche Analyse des Ist-Zustandes, Kommunikation, Krankheitsverlauf, Laborkontrollen, Abklärung neuer Symptome, Anpassung der Medikation, etc.
Zusätzlich zu Anzahl und Komplexität der einzelnen Bausteine sind vor allem Disziplin und Konsistenz von entscheidender Bedeutung, denn schon ein Spaziergang zu viel oder eine Tablette zu wenig können das fragile Gleichgewicht eines kurzzeitigen Plateaus einreißen. Zeitweise kann ME/CFS auch eine solche Dynamik entwickeln, dass allein das Bremsen der Abwärtsspirale ein durchaus erstrebenswertes, aber extrem ambitioniertes Ziel darstellt.
DISZIPLIN und Kraftanstrengung
Entsprechend ist das Maß an Disziplin, das Betroffene aufbringen müssen, ähnlich hoch wie das eines Spitzensportlers. Die mit ME/CFS verbundenen Entbehrungen sind im Vergleich dazu sogar noch größer, denn die Krankheit nimmt einem alles, was sie kriegen kann, und man widmet ihr ganz sicher nicht freiwillig sein gesamtes Leben. Es gibt keinen Spaß, keinen Gewinn, keinen Ehrgeiz, keine Anerkennung für die übermenschlichen Leistungen, die von Betroffenen gefordert sind, um zu überleben.
Die Aufgaben und Herausforderungen, denen Menschen mit ME/CFS jeden Tag gegenüberstehen, sind selbst für gesunde Menschen schwierig zu bewältigen. In Anbetracht unserer Energielosigkeit sind die kontinuierliche Disziplin und Anstrengung, die wir aufbringen, nahezu übermenschlich. Unsere Kraftanstrengungen können nur wir selbst beurteilen.
Wir wissen, wie viel wir jeden Tag leisten und wie viel wir investieren, um wenigstens ein kleines Leben zu haben.
Wir dürfen zurecht stolz darauf sein und dieses Gefühl kann uns keiner nehmen.
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