Gerade habe ich zwei oder drei kurze Klavierstücke gehört, ganz kurz nur, aber ich glaube, das zählt. Es ist das zweite Mal seit meinem Crash Ende April 2022, dass ich bewusst Musik höre, ohne zu crashen. Zwei Mal zehn Minuten Musik in zweieinhalb Jahren.
Und sofort regt sich in meinem Inneren wieder dieses Ungetüm, dieses Raubtier: Die riesige, starke, krallenbewehrte Bestie namens Hoffnung wittert Morgenluft. Sie krallt sich fest, steigt auf, bereit, die Flügel auszubreiten und den Verstand zu übernehmen.
Aber ich bin noch nicht bereit dafür. Die Musik und mein Klavier zu verlieren, die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, bevor ich Worte für sie gefunden habe, über die Tasten zu streichen, zu donnern oder zu tanzen, Liebe und Freude und Trauer als Töne zu erschaffen und schweben zu lassen, Emotionen zu materialisieren, sie in physische Existenz umzusetzen,… Das alles zu verlieren, das war, als würde ich innerlich einen langsamen, elenden und qualvollen Tod sterben.
Dieser Verlust ist nichts gegen den Verlust meiner Mitmenschen, den Verlust von Kontakt und Nähe zu meinem Liebsten und Freunden. Und doch ist allein mit der Musik eine tragende Säule meines Lebens weggebrochen.
Nicht umsonst heißt ME/CFS auch die Krankheit der lebenden Toten. Wir verharren in einem schier unerträglichen Zustand, Tag für Tag, um unser Leben zu schützen, aber wir leben nicht. Wie ein Abhängiger sein Suchtmittel braucht, so sind wir süchtig nach Leben. Nur die Vernunft und das Wissen um die Konsequenzen lassen mich dem Craving standhalten, dem unstillbaren Verlangen nach Freude, Liebe, Kreativität, Freunden, Bewegung, Natur und Musik.
Ich will dieser aufkeimenden Hoffnung nicht nachgeben, auch nur eine winzige Kleinigkeit davon zurückzubekommen. Ich ertrage lieber die unerträgliche Leere, die dort ist, wo Musik in meinem Leben war, wo Musik immer da war. Und ich ertrage auch die Sehnsucht. Sehnsucht nach Musik, nach Gefühlen, nach Leichtigkeit. Nach dieser Welt, die mich mein Leben lang begleitet und getragen hat, bis sie sich mir verschloss. Ich will nicht noch einmal sterben, nur um mit den gleichen Wünschen und Träumen wiedergeboren zu werden.
Vielleicht bin ich feige. Vielleicht denkst du, ich sollte alles nehmen, was ich kriegen kann. Jeden Ton und jede Synkope aufsaugen und froh sein, für das, was war.
Aber das kann ich nicht. Noch nicht.
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