Krankengeld & Co

oder: Das Deutsche Sozialversicherungssystem

Im Folgenden beschreibe ich meinen Weg durch das deutsche Sozialversicherungssystem. Einige Angaben fehlen oder sind abgewandelt, um meine Privatsphäre zu schützen. Mein Beispiel soll einen Eindruck geben von den Irrungen und Wirrungen, die unser Sozialstaat mit sich bringt, und über welche Zeiträume sich die jeweiligen Stadien erstrecken. Und auch wenn ich weiß, dass ich als schwerkranker Menschen niemals in der Lage gewesen wäre, alleine diese ganze Flut an Anträgen auszufüllen, so weiß ich doch, wie privilegiert ich bin, dafür, dass es diese Papiere gibt. Ich lebe mit LongCovid/ME/CFS und ich habe trotzdem eine eigene finanzielle Existenz.

Meine Covid-Infektion begann im März 2021, und bereits Mitte April 2021 hatte ich ein deutliches Long-Covid-Syndrom entwickelt. Damals war das auch medial noch relativ unbekannt und Neuland für all die Ärzte und Therapeuten, die ich aufsuchte, um organische und seelische Ursachen abklären zu lassen. (Anmerkung: Auch Ende 2024 ist es nicht leicht, eine:n Ärzt:in zu finden, der:die sich vorurteilsfrei mit den Krankheiten im Formenkreis Long Covid/Post Vac/ME/CFS beschäftigt und Patienten zu beraten oder gar zu begleiten weiß.)

Ich wollte nur eines: so schnell wie möglich wieder gesund werden, und es war für mich unvorstellbar, länger als ein oder zwei Wochen krank zu sein. Aber diese Krankheit hat nichts mit Wollen oder Können, sich durchbeißen oder trainieren oder kämpfen zu tun. Und so kam es anders.

Eine Frage, die sich für Long/Post Covid, Post Vac und ME/CFS-Betroffene viel zu schnell stellt, ist die nach der finanziellen Sicherheit. Deshalb möchte ich hier meine Erfahrungen und mein Wissen zum Thema teilen. Bitte denk daran, dass ich keine Sozialberatung mache und nur eine Orientierung geben kann, meinen Fallbericht sozusagen. Es gibt noch viele weitere Konstellationen und Anlaufstellen. Bei kleinen Fragen kann u. U. die Unabhängige Patientenberatung weiterhelfen, bei großen Problemen können einem auch die großen Sozialverbände VdK und SoVD mit Rat und Tat beistehen, sobald man Mitglied ist.

Unabhängige Patientenberatung (UPD)
https://patientenberatung.de/

Sozialverband Deutschland SOVD
https://www.sovd.de/Sozialverband

VdK Deutschland e. V.
https://www.vdk.de/

Zu Themen der Deutschen Rentenversicherung beraten auch die örtlichen Versicherungsältesten
https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Beratung-und-Kontakt/v_aes_berater/versichertenaelteste_versichertenberater_node.html

Vor meiner Covid-Erkrankung war ich etwa fünf Jahre lang angestellte Arbeitnehmerin. Diese Zahl sollte später für die Rentenversicherung sehr wichtig werden. Ironischerweise war ich nicht einen einzigen Tag davon krankgeschrieben, und entsprechend groß waren mein Unwissen und meine Angst gegenüber Arztbesuchen, Krankschreibung und Krankengeld. Das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert: Ich habe eine exponentielle Lernkurve hingelegt, was Anträge und Formulare angeht. Auch das Vertrauen zu meinem Hausarzt ist gewachsen. Eigentlich ist das nicht verwunderlich, denn er ist neben meinem Mann der einzige Mensch, den ich im Durchschnitt öfter als 1x im Quartal sehe. Doch nach so vielen Geschichten, die mir zu Ohren gekommen sind und die ich selbst erlebt habe, kann ich sagen: Ich habe riesiges Glück gehabt, in dieser Praxis gelandet zu sein.

Das ist bisher mein wichtigstes Learning: Wenn du eine neue Arztpraxis suchst, oder eine:n Physio-/Ergo-/Logo-/Psychotherapeut:in, lass dir eine Empfehlung geben.
Mit ME/CFS kann das, im wahrsten Sinne des Wortes, Leben retten.

Aber zurück zum Thema: Im Folgenden skizziere ich meinen Weg durch den Irrgarten des deutschen Sozialversicherungssystems, beginnend mit meiner Covid-Erkrankung im März 2021 bis zur Bewilligung meiner Rente im Juni 2023.

Mein Weg

29.03.2021: Telefonische Krankschreibung Covid19
März/April 2021: 2 Wochen AU wegen akuter Covid-Erkrankung (positiver PCR-Test!)
AU = Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung = “Krankschreibung” (ugs.)

09.04.-26.04.2021 Zurück im Dienst

27.04.2021: Beginn Lohnfortzahlung
April 2021: erste Krankschreibung wegen Long Covid, 4 Wochen nach erster AU

08.06.2021: Ende Lohnfortzahlung nach 6 Wochen

09.06.2021: Beginn Krankengeld
Das Krankengeld der gesetzlichen Krankenkassen endet nach 72 weiteren Wochen, also 78 Wochen ab dem ersten Tag der fortdauernden Krankschreibung. Es beinhaltet die 6 Wochen Lohnfortzahlung und auch die Zeit einer etwaigen Rehabilitation.
Die Höhe des Krankengelds liegt normalerweise bei 70% des Bruttoeinkommens. Es werden nicht mehr als 90% des Nettoeinkommens gezahlt. Außerdem ist das Krankengeld nach oben begrenzt: Es werden nicht mehr als 120,75€ pro Tag gezahlt (Stand 06/2024).

Rechner zur Dauer des Krankengeldbezugs (AOK)
https://www.aok.de/fk/tools/rechner/fristenrechner/

Rechner zur voraussichtlichen Höhe des Krankengelds (AOK)
https://www.aok.de/pk/leistungen/arbeitsunfaehigkeit/krankengeld/

06.09.-06.10.2022: Übergangsgeld während einer vierwöchigen neurologischen Reha*
In dieser Zeit ruht der Krankengeldbezug. Die finanzielle Existenz wird nun durch das Übergangsgeld getragen. Dieses wird auf Antrag von der Rentenversicherung gezahlt. Der Zeitraum des Krankengeldbezugs verlängert sich dadurch nicht.
* Das Thema Reha bei Long/Post Covid, Post Vac und ME/CFS ist sehr heikel. Die Qualität der dortigen Sozialberatung individuell unterschiedlich. Meine persönliche Meinung dazu wird bald auf diesem Blog zu finden sein.

15.10.2022: Antrag auf Arbeitslosengeld abgeschickt
Damit Menschen zwischen Krankengeld und Erwerbsminderungsrente nicht völlig mittellos dastehen, hat der Gesetzgeber die Möglichkeit “Arbeitslosengeld I nach Nahtlosigkeitsregelung” geschaffen. Dieses ist, wie das ALG I auch, auf 1 Jahr befristet.In dieser Zeit sollten die beteiligten Institutionen wie Renten- oder Berufsunfähigkeitsversicherung die bei ihnen gestellten Anträge bewilligen und damit den Lebensunterhalt des unverschuldet schwer kranken, antragstellenden Menschen sichern.

24.10.2022: Tag der Aussteuerung = Ende des Krankengeldbezugs
Arbeitsuchendmeldung persönlich auf dem Arbeitsamt

29.01.2023: Bewilligung “Arbeitslosengeld I nach Nahtlosigkeitsregelung” für 1 Jahr

19.06.2023: Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente für 2 Jahre

19.11.2023: Bewilligung einer Zusatzrente in Abhängigkeit von der Bewilligung der Rente durch die DRV

Wichtige Erfahrungswerte

Ärzt:innen und Therapeut:innen können nur Krankheiten und Beschwerden behandeln, die sie kennen.

Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt.
Symptome, Gesprächsprotokolle, Laborwerte, Befunde und Medikationspläne: alles dokumentieren, in einen Ordner heften, ggf. dem koordinierenden Arzt für die Akte geben. Spätestens für diverse Anträge bei Arbeitsagentur und Rentenversicherung muss ein schriftlicher Beweis für eine Erkrankung vorliegen, am besten von mehreren Fachärzt:innen.

Fachkundige Beratung und Hilfe sind unbezahlbar.
Als Normalsterblicher erfordern all die Formulare und Anträge nicht nur wahre Nervenstärke und Frustrationstoleranz, sondern auch eine:n befreundete:n oder verwandte:n Jurist:in.

Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.
Anträge werden an die falsche Zweigstelle gesendet und dort geschreddert, oder gar an die falsche Institution weitergeleitet. Lieber jedem Blatt hinterher telefonieren, auch wenn die Warteschleifenmusik grausam ist.

Anrufe, Rezeptabholung und Medikamentenkäufe können z.B. mittels Vollmachten durch Vertrauenspersonen erledigt werden, z.B. Lebenspartner, Freunde, Nachbarn, …

Berufsunfähigkeits- oder Zusatzversicherungen können im Einzelfall sinnvoll sein, unterliegen jedoch meist Ausschlusskriterien.

Das Leben ist gefährlich und endet meist tödlich.
Informiere Dich so früh wie möglich zu Berufsunfähigkeitsversicherung, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung/gesetzliche Betreuung, Organspende, Kontenklärung (DRV) und Testament. Früh genug heißt im besten Fall, bevor du etwas davon brauchst und noch fit im Kopf bist. Das ist zwar nicht gerade spaßig, aber die nächste Covid-Infektion kommt bestimmt.


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