Ich würde behaupten, dass das Verhältnis zu meinen Schwiegereltern ein gutes ist, und vielleicht würde ich sogar so weit gehen, zu schreiben, ich hätte die besten Schwiegereltern der Welt. Aber es ist wie mit allen anderen Eltern auch: Woher soll ich das wissen? Ich habe nur diese beiden und ich kenne keine anderen. Vielleicht gibt es irgendwo da draußen noch ein besseres Modell…? Egal, ich bin sehr glücklich mit denen, die ich habe, erst recht, da sie ja quasi im Set mit meinem Mann kamen. Und den will und werde ich nicht zurückgeben.
Meine Schwiegereltern und ich haben so viele Gemeinsamkeiten, dass wir eine gute Verbindung haben und so viele Unterschiede, dass uns nicht langweilig wird. Im guten wie im spannungsgeladenen Sinne. Früher nannte man das noch unterschiedliche Ansichten, heute heißt es Diversität, und das ist ja bekanntlich etwas Gutes.
Doch mittlerweile haben wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen, und das wortwörtlich. Es mag Menschen geben, die bei dieser Vorstellung leuchtende Augen bekommen, doch mich macht es furchtbar traurig.Â
Denn ohne meine Schwiegereltern ist meine Welt weniger bunt. Sie ist grauer und kälter und leerer. Während andere von Schwiegermonstern sprechen, kann ich mich mit ihren grundlegenden Vorstellungen und Werten identifizieren. Ich würde so gerne wieder dieses grundlegende Vertrauen erleben, die kindliche Neugier und die bedingungslose Liebe mit ihnen teilen, die sie allen Menschen, Tieren und der Natur entgegenbringen, kurz: dem Leben.
Und deshalb möchte ich heute eine meiner liebsten Erinnerungen mit euch teilen. Eine Erinnerung, die eigentlich mehrere ist, denn sie handelt von einem jährlichen Ritual: dem Weihnachtslieder singen.
Meine Eltern singen nicht gern, und so kam es, dass ich zu Weihnachten weder singen musste, um meine Geschenke zu bekommen, noch dass wir gemeinsam gesungen haben. Doch glücklicherweise war es an meiner Schule Tradition, am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien den Unterricht um 12 Uhr zu beenden und danach mit allen, die wollten, in der Aula Weihnachtslieder zu singen. Egal, ob Lehrer:innen, Schüler:innen oder Mitarbeiter:innen, Hauptsache, wir waren viele. Und in dieser akustischen Kulisse mit hundert anderen Menschen mehrstimmig Weihnachtslieder zu singen war schön, überwältigend, verbindend. Ein Gänsehautmoment.
Ich sollte hinzufügen, dass ich in Leipzig zur Schule gegangen bin. Das heißt, der Text wurde mit dem Polylux an die Wand geworfen und die Weihnachtslieder unterscheiden sich ein wenig von denen aus den evangelischen Gesangsbüchern Norddeutschlands. Genau genommen gibt es da kaum Gemeinsamkeiten, und genau das macht es zu einem richtigen Event, mit meiner angeheirateten Familie Weihnachtslieder zu singen.
Zudem haben meine Schwiegerelten an Weihnachten oft Gäste. Neben den beiden Söhnen mit Anhang ist oft noch ein Bruder oder eine Schwester dabei und vielleicht kommt im Laufe des Tages noch eine Freundin oder ein Nachbar dazu. So standen wir im Corona-Winter 2020 mit fünfzehn Leuten an einer kalten Straßenkreuzung und sangen lauthals und immer schnelle Stille Nacht, während der Nachbarsjunge vom Balkon flötete, ein Freund Geige spielte und der Hund jaulte.
Sagen wir es so: Das war schon besonders.
Ohne Infektionsschutzmaßnahmen umfasst das Weihnachtsliedersingen im Innenraum meist sechs oder sieben Leute, die sich in Gruppen um drei Liederbücher versammeln: ein evangelisches Gesangsbuch, ein katholisches Gesangsbuch und mein Schulliederbuch. Und dann läuft das so: Ich versuche, dem Klavier in angemessen feierlichem Tempo die richtigen Töne zu entlocken, meine Schwiegermutter singt im Sopran und ihr Mann tönt im Bass eine Konterstimme während alle anderen versuchen, wenigstens halbwegs die Melodie zu treffen. Derweil krümmt sich meine Schwägerin vor peinlich berührtem Lachen und der Hund ist längst mit eingeklappten Ohren die Treppe empor geflüchtet.
Sehr schnell kommen wir an einen Punkt, wo jeder sein eigenes Lied singt: Eine eigene Melodie, im eigenen Tempo und mit einem eigenen Text, denn die Gesangbücher haben alle verschiedene Angaben und überspringen gerne mal mehrere Strophen. Nicht selten singt auch mal jemand ein ganz anderes Lied, wenn er die falsche Seite aufgeschlagen hat.Â
Und so endet alles in einem heillosen Durcheinander, während wir uns lachend über Texte streiten, lauthals unsere Lieblingslieder einfordern und nebenbei versuchen, unsere Melodieführung zu korrigieren.
Es war so schön und so schön vorhersehbar und ich vermisse es. Ich vermisse es von ganzem Herzen: diese, unsere kleine Weihnachtsmusik.
Schreibe einen Kommentar